GROßES KOMMT... 
 

Eine Anthologie ... über 100 Geschichten

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Seitenweise Geschichten

Eine Sammlung 1-seitiger Geschichten

Von: Felix Terborg, Roger Bandai, Annie G. Bauer, Antonia Blaik, Laura Eschweiler, Vanessa K. Minden, Rieke Hoffmann, Lydia E. Stadler, Peter M. Wagner, Marco Webel

Status: Angekündigt

Format: Gebundenes Buch, ebook

ISBN: 978-3819-22730-1 (Print)   | 978-3819-24075-1 (ebook)

Veröffentlichung: 24.07.2025

Seitenzahl:  138 Seiten

Beschreibung: Kurz, knapp, original und mitreißend: Eine Anthologie mit ausschließlich originalen Geschichten, die im Zeitraum 2023 bis 2024 geschrieben wurden. Jede Geschichte erzählt auf engstem Raum von einzigartigen Ereignissen und beinhaltet eine hohe Dichte an Ideen.



Leseproben 


Vanessa K. Minden: Auf Grauen Wänden

Ein hellblauer Himmel – rosa Blüten flogen durch die Luft – tanzten auf einer Meeresoberfläche.
»Träumst du schon wieder, Treena?« Kim, der neben mir saß, riss mich in die Realität zurück. »Du lächelst die grauen Wände an, als würdest du da etwas sehen.«
Ich seufzte, den Blick auf das vorbeiziehende Grau geheftet. Es war dunkel und leer, wie alles hier unter der Erde.
»Von fliegenden Schildkröten«, antwortete ich. Die Kirschblüten über dem Meer erwähnte ich lieber nicht.
»Du meinst wohl Vögel oder Schmetterlinge. Die konnten fliegen.« Klar wusste Kim es wieder besser, auch wenn er keins der Tiere je selbst gesehen hatte.
»Aber stell dir vor, Schildkröten hätten Federn gehabt. Dann wären sie bestimmt geflogen.«
Die Waggons blieben stehen. Am Wald stand in schwarzen Lettern auf grauem Hintergrund. Aber es war kein Wald. Nur Pflanzen unter Neonröhren in Töpfen. Irrsinnig lange Reihen.
»Die Geschichten machen dich noch kirre. Hier unten fliegt nichts mehr.« Kim lachte, aber es wirkte nicht fröhlich.
Als wir durch die Reihen zu unserem Arbeitsplatz gingen, sahen wir einen Käfer, der gerade vom Boden abhob. Ich grinste, als hätte er das getan, um ihm das Gegenteil zu beweisen. Der Kleine setzte sich auf eine rote Blüte und wurde sogleich vom Kelch verschlungen.
Kim sagte an diesem Tag nichts mehr. Die Arbeit lief zäh. Und auch an mir nagte das Gefühl, hier unten gefangen zu sein. Dabei waren wir in Sicherheit. Oben sah die Welt längst nicht mehr so aus, wie wir sie von Geschichten kannten. Keine Kirschblüten. Keine Schildkröten, ob fliegend oder nicht. Die Traurigkeit wollte sich den ganzen Tag nicht abschütteln lassen.
Ich musste mich damit abfinden, dass unser Platz hier war, zwischen den grauen Wänden. Doch, als sie auf dem Rückweg an mir vorbeizogen, fing ich wieder an zu träumen. Kim schüttelte den Kopf, aber ich gewann mein Lächeln zurück. Könnte er nur das Gleiche sehen.
»Irgendwann male ich dir die Bilder auf die Wand«, flüsterte ich. Vom Fliegen durch Kirschblüten und Tänzen auf dem Meer.



Peter M. Wagner: Zeitdilatation
Es gibt Situationen im Leben, auf die man trotz des Bemühens aller Erziehungspersonen und Ausbilder nur sehr unzulänglich vorbereitet wird. Zum Beispiel darauf, dass es tote Winkel an völlig untypischen Orten gibt. Nehmen wir eine alltägliche Szene Ende der Achtziger: Ein junger Mann, nennen wir ihn Peter, fährt dicht hinter einem älteren Mann – von Peter spontan Opa getauft – auf einer kurvigen Landstraße. Opa fährt höchstens 70 statt der erlaubten 100 km/h. Das nervt. Endlich sieht die Gegenspur frei aus. Blitzartig schaltet Peter runter, macht das Gaspedal wieder mal mit dem Bodenblech bekannt und zieht links raus. Er muss schon ordentlich Schwung holen, um mit seiner schwachbrüstigen Karre überhaupt vorbeizukommen.
Glaubt mir, es ist ein völlig surreales Erlebnis, beim Überholen plötzlich auf ein entgegenkommendes Auto zu starren, das wie aus dem Nichts in nur wenigen Metern Entfernung vor einem auftaucht. Eine alternative Realität manifestiert sich. Die Zeit bleibt einfach stehen.
Wo kommt der denn her?, überlege ich, und analysiere, dass er auch mit 70 bis 90 unterwegs sein muss. Ich addiere und stelle fest: Für Aufprallgeschwindigkeiten deutlich über 100 sind Autos nicht konstruiert. Der jüngeren Leserschaft sei erläutert, dass es ABS und Airbags noch nicht gab, man konnte auch mit 50 Sachen problemlos zu Tode kommen. Natürlich wird mir langsam klar, dass das verdammte Auto nicht durch Magie erschienen ist, sondern eben im toten Winkel der A-Säule von Opas Benz steckte. Siehe oben. Doch aus all meinen analytischen Überlegungen kristallisiert sich mit der Zeit auch ein konkreter Gedanke heraus: Mach endlich was, du Idiot.
Im Nachhinein muss ich sagen, das Frappierendste an der ganzen Geschichte war die enorme Zeitdilatation. Einstein hatte dazu fast Lichtgeschwindigkeit gebraucht. Mir reichten 90 km/h auf der besetzten Gegenspur. Ach so – letztlich hatte ich mich dazu entschieden, scharf zu bremsen und wieder hinter Opa einzuscheren. Peinlich, aber hilfreich, denn dadurch kann ich meine Erkenntnisse nun weiterverbreiten. Survivorship bias heißt das auf Neudeutsch. Soll wohl bedeuten, dass an der Statistik etwas faul ist, wenn hundert Prozent der Alten am Stammtisch ständig damit angeben, wie sie all die Harakiri-Situationen auf der Straße überstanden haben, damals.



Felix Terborg: Die Verhundung

Als der silberne Ritter Wolfgang eines Tages mit seinem Wolf ging – sein Pferd hatte er in der letzten großen Schlacht verloren – kam er durch ein Tal, in dem die Bäume so dicht standen, dass es von Weitem so wirkte, als läge eine grüne Wolldecke zwischen den Bergen. Wolfgang wunderte es also, dass er auf seinem Weg auf ein Dorf traf. Zunächst wirkte es wie ein ganz gewöhnliches Dorf. Belebt, freundlich und der Natur verbunden. Die Bewohner grüßten ihn, riefen ihm Glückwünsche für seine Reisen zu und die Kinder bewunderten seine glänzende Rüstung. Als er in der Taverne zu Mittag aß, entdeckte er jedoch, dass etwas mit diesem Ort nicht stimmte. Die Menschen schnüffelten mit ihren Nasen, als wären sie Hunde. Nach einer Weile beobachtete Wolfgang, dass sich die Dorfbewohner einander an den Hintern rochen. Zwei Männer beobachtete er dabei, wie sie ihre Füße hinter die Ohren hoben und dort kratzten. Ein anderer lief um ein Gebäude und hob das Bein. Es lag auf der Hand, dass den Menschen nicht bewusst war, dass ein fauler Zauber auf ihnen lag. Sie sprachen und handelten wie normale Menschen – bis auf diese Ausbrüche alle paar Minuten, die sie zu Hunden werden ließen. Aber wer war dafür verantwortlich? Gerade, als Wolfgang nach draußen ging, erschien eine Wolke vor ihm, aus der sich eine bärtige Büste materialisierte. Ein Magier? »Endlich ein Ritter eines Kampfes würdig«, kam es von der Gestalt, die sich bald als der »finstere Zauberer der Berge« vorstellte. »Wenn du dieses Dorf retten willst«, fuhr sie fort, »musst du mich schlagen. Und wenn du verlierst, dann steht dir dasselbe Schicksal wie diesen armen Teufeln bevor! Ich werde dich zu einem Hund machen. Aber wenn du gewinnen solltest, bin ich fair und werde dich verschonen und das ganze Dorf enthunden. Kommt in mein Gebirge!« Wolfgang rief: »Warum tut Ihr das?«, und sein Wolf ging in Kampfstellung, wobei er bedrohlich knurrte. Natürlich konnten sie ein Trugbild wie dieses nicht angreifen. »Oh, ich erlaube mir nur einen Spaß, Ritter! Davon gibt es viel zu wenig in dieser Welt! Schlagt mich, und ich gebe den Menschen ihr Leben zurück. Zeigt, was für ein Ritter Ihr seid. Unterhaltet mich!« Die Büste verschwand. Wolfgang brach gleich auf und ging die Hauptstraße entlang. Aber nicht in Richtung Berge – er ging den gleichen Weg zurück, den er gekommen war. Mit so einem Scheiß wollte er nichts zu tun haben. Nein danke.



Lydia E. Stadler: Die Uhr der verlorenen Zeit

Könnte ich doch die Zeit zurückdrehen. Nur noch einmal deine Stimme hören, dich noch einmal berühren. Ruhelos fahre ich mit dem Auto auf der Suche nach dir. Vor mir taucht ein Dorf im Nebel auf. Auf einem Ladenschild steht: »Zeitvergessen«.
Ich weiß, ich muss es schaffen, die Zeit mit dir zu vergessen, weil es immer noch so weh tut. Wäre dieser schreckliche Unfall vermeidbar gewesen, durch den ich dich verloren habe, wenn ich die Zeit zurückdrehen könnte? Ich betrete den Laden. Ein alter Mann tritt auf mich zu und drückt mir eine Taschenuhr in die Hand. »Diese Uhr wird dir die verlorene Zeit schenken. Aber bedenke, dass jeder Augenblick, den du erlebst, sofort für immer verblasst. Geh zu dem Ort, der dir der liebste war, und dreh an dem Rädchen.«
Ich fahre zu unserer Bank am Fluss. Das Rädchen lässt sich leicht drehen. Und sogleich spüre ich deine Nähe. Du bist hier, neben mir. Es ist kein Traum. Ich drehe die Zeit immer wieder zurück, weil ich dich bei mir halten will. Aber die erlebte Zeit verschwindet sofort für immer, wie es der alte Mann gesagt hat. Es wird dunkel und mir wird klar, dass diese Illusion nicht das Leben ist. Ich will die Uhr zurückgeben, aber das Dorf hat sich im Nebel aufgelöst, ich finde es nicht mehr. Die Bank steht da, ich setze mich nicht, sondern gehe zum Fluss. Ich nehme die Uhr und werfe sie ins Wasser. Die Zeit läuft weiter, ohne dich. Vielleicht werde ich von dir träumen, aber ich lasse dich gehen und bin ohne Schmerz.