Eine Anthologie ... über 100 Geschichten
Seitenweise Geschichten
Eine Sammlung 1-seitiger Geschichten
Von: Felix Terborg, Roger Bandai, Annie G. Bauer, Antonia Blaik, Laura Eschweiler, Vanessa K. Minden, Rieke Hoffmann, Lydia E. Stadler, Peter M. Wagner, Marco Webel
Status: Angekündigt
Format: Gebundenes Buch, ebook
ISBN: 978-3819-22730-1 (Print) | 978-3819-24075-1 (ebook)
Veröffentlichung: 24.07.2025
Seitenzahl: 138 Seiten
Beschreibung: Kurz, knapp, original und mitreißend: Eine Anthologie mit ausschließlich originalen Geschichten, die im Zeitraum 2023 bis 2024 geschrieben wurden. Jede Geschichte erzählt auf engstem Raum von einzigartigen Ereignissen und beinhaltet eine hohe Dichte an Ideen.
Leseproben
Vanessa K. Minden: Auf Grauen Wänden
Peter M. Wagner: Zeitdilatation
Es gibt Situationen im Leben, auf die man trotz des Bemühens aller Erziehungspersonen und Ausbilder nur sehr unzulänglich vorbereitet wird. Zum Beispiel darauf, dass es tote Winkel an völlig untypischen Orten gibt. Nehmen wir eine alltägliche Szene Ende der Achtziger: Ein junger Mann, nennen wir ihn Peter, fährt dicht hinter einem älteren Mann – von Peter spontan Opa getauft – auf einer kurvigen Landstraße. Opa fährt höchstens 70 statt der erlaubten 100 km/h. Das nervt. Endlich sieht die Gegenspur frei aus. Blitzartig schaltet Peter runter, macht das Gaspedal wieder mal mit dem Bodenblech bekannt und zieht links raus. Er muss schon ordentlich Schwung holen, um mit seiner schwachbrüstigen Karre überhaupt vorbeizukommen.
Glaubt mir, es ist ein völlig surreales Erlebnis, beim Überholen plötzlich auf ein entgegenkommendes Auto zu starren, das wie aus dem Nichts in nur wenigen Metern Entfernung vor einem auftaucht. Eine alternative Realität manifestiert sich. Die Zeit bleibt einfach stehen.
Wo kommt der denn her?, überlege ich, und analysiere, dass er auch mit 70 bis 90 unterwegs sein muss. Ich addiere und stelle fest: Für Aufprallgeschwindigkeiten deutlich über 100 sind Autos nicht konstruiert. Der jüngeren Leserschaft sei erläutert, dass es ABS und Airbags noch nicht gab, man konnte auch mit 50 Sachen problemlos zu Tode kommen. Natürlich wird mir langsam klar, dass das verdammte Auto nicht durch Magie erschienen ist, sondern eben im toten Winkel der A-Säule von Opas Benz steckte. Siehe oben. Doch aus all meinen analytischen Überlegungen kristallisiert sich mit der Zeit auch ein konkreter Gedanke heraus: Mach endlich was, du Idiot.
Im Nachhinein muss ich sagen, das Frappierendste an der ganzen Geschichte war die enorme Zeitdilatation. Einstein hatte dazu fast Lichtgeschwindigkeit gebraucht. Mir reichten 90 km/h auf der besetzten Gegenspur. Ach so – letztlich hatte ich mich dazu entschieden, scharf zu bremsen und wieder hinter Opa einzuscheren. Peinlich, aber hilfreich, denn dadurch kann ich meine Erkenntnisse nun weiterverbreiten. Survivorship bias heißt das auf Neudeutsch. Soll wohl bedeuten, dass an der Statistik etwas faul ist, wenn hundert Prozent der Alten am Stammtisch ständig damit angeben, wie sie all die Harakiri-Situationen auf der Straße überstanden haben, damals.
Felix Terborg: Die Verhundung
Als der silberne Ritter Wolfgang eines Tages mit seinem Wolf ging – sein Pferd hatte er in der letzten großen Schlacht verloren – kam er durch ein Tal, in dem die Bäume so dicht standen, dass es von Weitem so wirkte, als läge eine grüne Wolldecke zwischen den Bergen. Wolfgang wunderte es also, dass er auf seinem Weg auf ein Dorf traf. Zunächst wirkte es wie ein ganz gewöhnliches Dorf. Belebt, freundlich und der Natur verbunden. Die Bewohner grüßten ihn, riefen ihm Glückwünsche für seine Reisen zu und die Kinder bewunderten seine glänzende Rüstung. Als er in der Taverne zu Mittag aß, entdeckte er jedoch, dass etwas mit diesem Ort nicht stimmte. Die Menschen schnüffelten mit ihren Nasen, als wären sie Hunde. Nach einer Weile beobachtete Wolfgang, dass sich die Dorfbewohner einander an den Hintern rochen. Zwei Männer beobachtete er dabei, wie sie ihre Füße hinter die Ohren hoben und dort kratzten. Ein anderer lief um ein Gebäude und hob das Bein. Es lag auf der Hand, dass den Menschen nicht bewusst war, dass ein fauler Zauber auf ihnen lag. Sie sprachen und handelten wie normale Menschen – bis auf diese Ausbrüche alle paar Minuten, die sie zu Hunden werden ließen. Aber wer war dafür verantwortlich? Gerade, als Wolfgang nach draußen ging, erschien eine Wolke vor ihm, aus der sich eine bärtige Büste materialisierte. Ein Magier? »Endlich ein Ritter eines Kampfes würdig«, kam es von der Gestalt, die sich bald als der »finstere Zauberer der Berge« vorstellte. »Wenn du dieses Dorf retten willst«, fuhr sie fort, »musst du mich schlagen. Und wenn du verlierst, dann steht dir dasselbe Schicksal wie diesen armen Teufeln bevor! Ich werde dich zu einem Hund machen. Aber wenn du gewinnen solltest, bin ich fair und werde dich verschonen und das ganze Dorf enthunden. Kommt in mein Gebirge!« Wolfgang rief: »Warum tut Ihr das?«, und sein Wolf ging in Kampfstellung, wobei er bedrohlich knurrte. Natürlich konnten sie ein Trugbild wie dieses nicht angreifen. »Oh, ich erlaube mir nur einen Spaß, Ritter! Davon gibt es viel zu wenig in dieser Welt! Schlagt mich, und ich gebe den Menschen ihr Leben zurück. Zeigt, was für ein Ritter Ihr seid. Unterhaltet mich!« Die Büste verschwand. Wolfgang brach gleich auf und ging die Hauptstraße entlang. Aber nicht in Richtung Berge – er ging den gleichen Weg zurück, den er gekommen war. Mit so einem Scheiß wollte er nichts zu tun haben. Nein danke.
Lydia E. Stadler: Die Uhr der verlorenen Zeit
Könnte ich doch die Zeit zurückdrehen. Nur noch einmal deine Stimme hören, dich noch einmal berühren. Ruhelos fahre ich mit dem Auto auf der Suche nach dir. Vor mir taucht ein Dorf im Nebel auf. Auf einem Ladenschild steht: »Zeitvergessen«.
Ich weiß, ich muss es schaffen, die Zeit mit dir zu vergessen, weil es immer noch so weh tut. Wäre dieser schreckliche Unfall vermeidbar gewesen, durch den ich dich verloren habe, wenn ich die Zeit zurückdrehen könnte? Ich betrete den Laden. Ein alter Mann tritt auf mich zu und drückt mir eine Taschenuhr in die Hand. »Diese Uhr wird dir die verlorene Zeit schenken. Aber bedenke, dass jeder Augenblick, den du erlebst, sofort für immer verblasst. Geh zu dem Ort, der dir der liebste war, und dreh an dem Rädchen.«
Ich fahre zu unserer Bank am Fluss. Das Rädchen lässt sich leicht drehen. Und sogleich spüre ich deine Nähe. Du bist hier, neben mir. Es ist kein Traum. Ich drehe die Zeit immer wieder zurück, weil ich dich bei mir halten will. Aber die erlebte Zeit verschwindet sofort für immer, wie es der alte Mann gesagt hat. Es wird dunkel und mir wird klar, dass diese Illusion nicht das Leben ist. Ich will die Uhr zurückgeben, aber das Dorf hat sich im Nebel aufgelöst, ich finde es nicht mehr. Die Bank steht da, ich setze mich nicht, sondern gehe zum Fluss. Ich nehme die Uhr und werfe sie ins Wasser. Die Zeit läuft weiter, ohne dich. Vielleicht werde ich von dir träumen, aber ich lasse dich gehen und bin ohne Schmerz.